Behelfsheime in Lützschena

Es war im Januar 1945, als meine Großmutter, meine Tante und ihre drei Kinder sowie ein geistig behinderter Onkel von Groß-Wartenberg und Breslau in Schlesien auf der Flucht vor der Roten Armee zu uns nach Schkeuditz kamen. In unserer kleinen Wohnung in der Wilhelmstraße 9, heute Schillerstraße 9 und AWO-Schillerresidenz, war natürlich kein Platz für diese zusätzlichen Personen, denn sie war für unsere kleine Familie, also meine Mutter, die Schwester und mich gerade ausreichend. Unser Vater war zu der Zeit schon in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Außer dem, was sie am Leibe trugen und in ein kleines Köfferchen passte hatten die Flüchtlinge nichts weiter bei sich. Was sie mir mitbrachten, das waren Läuse, die sich bei der tagelangen Bahnfahrt von Breslau nach Leipzig auf ihren Köpfen eingenistet hatten. Die materielle Not war groß und zu allem kamen gewaltige Sorgen hinzu, denn die Geflüchteten trauerten wegen der verlorenen Heimat und unsere Mutter wartete schon bald zwei Jahre auf ein Lebenszeichen unseres Vaters.

Zum Glück dauerte es nicht lange und die Verwandten erhielten eine Bleibe in so genannten Behelfsheimen, welche man östlich vom Grenzgraben auf Lützschenaer Flur aufgestellt hatte. Sie sollten nicht nur den Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf geben, sondern auch den Menschen, welche durch die Bombenangriffe ihre Wohnung verloren hatten. Es waren etwa acht hölzerne Baracken, die eine Fläche von ca. 5 x 5 m hatten. Über einen Windfang betrat man das größere Zimmer, in dem sich auch der Kochherd und damit die einzige Möglichkeit zum Heizen befand. Der Raum seitlich davon war kleiner und sollte wohl als Schlafraum dienen. Einen Wasseranschluss gab es nicht, so dass man das kostbare Nass mit Eimern und Kannen von einer Stelle holen musste, wo am Wegesrand ein Wasserhahn allen Bewohnern der kleinen Siedlung zur Verfügung stand. Als Toilette diente ein „Herzhäuschen“, das einige Meter abseits von der Baracke stand und in dem ein Eimer unter der Sitzfläche die Fäkalien aufnahm. Sowohl sein Inhalt als auch die Abwässer gossen die Bewohner auf die Beete, welche man um die Baracken anlegte, um etwas Gemüse oder ein paar Kartoffeln anzubauen. Einziger Komfort war der Anschluss an das Stromnetz, so dass man abends nicht im Dunkeln saß und auch elektrische Geräte betreiben konnte. Dies war allerdings nicht immer möglich, denn tägliche Stromabschaltungen besonders an den Abendstunden waren zu der Zeit an der Tagesordnung.

In eine der Baracken zog meine Großmutter mit dem Onkel, in die daneben die Tante mit den drei Kindern. Sehr oft fuhren wir mit der Straßenbahn dorthin, denn unsere Mutter und die Tante machten sich auf den Weg, um das zu besorgen, was wir zum Leben brauchten, also Lebensmittel, Kleidung, Futter für die Kaninchen und Brennmaterial. Der Onkel unterstützte sie dabei, indem er nach Leipzig fuhr und in den Trümmern der Häuser nach Holzresten suchte, die er in einer großen Tasche aus Segeltuch heimschleppte, wo sie in den Ofen wanderten. Als günstig erwies es sich, dass damals die Haltestelle der Linie 28 an der Gemeindegrenze von Lützschena und Schkeuditz lag, also der ehemaligen Landesgrenze zwischen Preußen und Sachsen. Von hier waren es nur wenige Schritte bis zu den Behelfsheimen. Als aber im April 1945 der Krieg in der Leipziger Region zu Ende ging und die Amerikaner einrückten war der Betrieb der Straßenbahn für einige Tage unterbrochen, so dass wir den Weg von Schkeuditz nach Modelwitz zu Fuß zurücklegen mussten. Meist war da der Handwagen dabei, in dem meine jüngere Schwester saß, weil sie nicht so weit laufen konnte. Außerdem gab es immer etwas zu transportieren.

Die beiden Frauen, unsere Mutter und die Tante, hatten nämlich immer mit der Beschaffung von Lebensmitteln zu tun. Alles, was sich gegen ein paar Kartoffeln, etwas Mehl oder wenn es hoch kam gegen ein Stück Wurst eintauschen ließ, das schleppten sie zu den Bauern. Als aber die Tauschwaren zur Neige ging, da trennten sie Zuckersäcke auf und strickten aus den so gewonnenen Fäden vor allem Schlüpfer für die Bauersfrauen und deren Familien. Die weiteste Hamstertour ging auf der Autobahn bis nach Queis nördlich von Halle, wo sie eine Stammkundschaft hatten. Ihre weitere Sorge galt der Beschaffung von Heizmaterial. In der Nachkriegszeit wurden Brennstoffe streng rationalisiert, weshalb die Zuteilungen niemals ausreichten, die Baracke mit ihren dünnen Holzwänden und den einfach verglasten Fenstern nur notdürftig zu erwärmen. Wie viele andere Bürger machten sie mit beim Kohlenklau, was heißt, dass sie zum Bahnhof in Schkeuditz gingen und dort von den Kohlezügen, die hier manchmal einige Zeit halten mussten, vor allem Briketts holten. Zum Anzünden der Kohlen benutzte man Holz, das niemals ausreichte, auch nicht dann, wenn der Onkel etwas brachte. Ganz schlimm war das im Winter 1946/47, als bittere Kälte herrschte. Ich kann mich gut erinnern, wie unsere Mutter und die Tante an einem späten Winterabend in den Modelwitzer Park gingen und dort eine junge Kiefer umlegten. Sie sägten die Äste ab und teilten den Stamm in handliche Stücke, die wir Kinder zu der Baracke schleppten und unter ihrem Boden verstauten. Dabei herrschte ein gespenstisches Licht, denn der Mond schien hell und es lag etwas Schnee.

Das Leben an der Landesgrenze hatte jedoch auch seine Tücken. So wurde auf der Potsdamer Konferenz von den Siegermächten die Zerschlagung Preußens beschlossen und die Provinz Sachsen-Anhalt gebildet, in der Schkeuditz lag. Lützschena jedoch gehörte weiter zu Sachsen. Die nun notwendigen Lebensmittelkarten, Punktkarten (für den Kauf von Textilien) und sonstigen Bezugsscheine galten nur in dem Land, welches sie herausgab. Das hatte zur Folge, dass die Bewohner der Behelfsheime nicht in dem Lebensmittelgeschäft an der Ecke Äußere Leipziger Straße/Modelwitzer Straße einkaufen konnten, denn der Laden lag nun in Sachsen-Anhalt. Sie gingen also nach Lützschena, wo sich das Geschäft der Familie Süßkind befand. Auf der anderen Seite war es den Schkeuditzern nicht möglich in der nahen Stadt Leipzig ihre Marken einzusetzen, so dass sie sich nach Halle oder ihrer Kreisstadt Merseburg wandten. Mittlerweile ist das Ensemble in Modelwitz mit dem erwähnten Laden in einem beklagenswerten Zustand und es scheint so, als würden bald die Abrissbagger kommen.

Während alle Erwachsenen tagsüber irgendeiner Beschäftigung nachgingen war es die Oma, die die fünfköpfige Kinderschar zu betreuen hatte. Gelegentlich bekam sie dabei Unterstützung von einer älteren Flüchtlingsfrau, die über mehr Durchsetzungskraft gegenüber uns Kindern verfügte. Das änderte sich, als die Großmutter im April 1948 starb. Sie wurde auf dem Friedhof in Hänichen beigesetzt und der Onkel in das Krankenhaus Altscherbitz eingewiesen. Die Tante mit ihren Kindern konnte das Provisorium verlassen und erhielt eine kleine Wohnung in Leipzig-Paunsdorf. Es dauerte nicht lange, die Behelfsheime verschwanden und später ließen sich hier Kleingärtner nieder.

Anders erging es den Notunterkünften, die sich an der Westseite der Auenblickstraße in Stahmeln befanden. Sie waren gemauert und wurden von ihren Bewohnern schrittweise aus- und umgebaut, so dass sie heute immer noch stehen und dabei gewiss modernen Anforderungen genügen.

Horst Pawlitzky