Lediglich der Straßennahme „Am Russischen Garten“ und die Reste des Russischen Hauses in der Nähe zum Lützschenaer Schloss zeugen noch heute davon, dass es einst eine enge Beziehung von Lützschena zum ehemaligen Zarenreich gab. Begonnen hatte diese 1813, als Maximilian Speck (1776 – 1856), der damals noch in Leipzig wohnte, dem fast gleichalt-rigen russischen Zaren Alexander I. (geb. 23.12.1777) begegnete, welcher seine Truppen im Kampf gegen Napoleon und in der Völkerschlacht bei Leipzig begleitete. Diese Bekanntschaft erfuhr in den folgen-den Jahren eine wesentliche Vertiefung. Es hatte sich offenbar bis zum Zarenhof in Petersburg herumge-sprochen, dass Speck in den wenigen Jahren, nach-dem er 1822 das Gut Lützschena erworben hatte, aus diesem einen musterhaften Landwirtschaftsbetrieb gemacht hatte. Deshalb wurde er 1825 vom Zaren Alexander I. nach Russland eingeladen.
Er schrieb dazu: „Auf meiner Reise … richtete ich meine vorzügliche Aufmerksamkeit auf den Gang der Schafzucht in Neu-Rußland“. In Petersburg hielt er am 26. August 1825 einen Vortrag über die „Veredlung der Schafe und Wolle“ vor Mitgliedern der Kaiserlich-Oekono-mischen Gesellschaft. Dafür wurde ihm Anerkennung zuteil, indem er bei seinem Besuch in Zarskoje selo aus der Hand des Zaren den Orden „des heiligen apostelgleichen Wladimir“ 4. Stufe erhielt und damit in den Rang eines Ritters erhoben wurde. Daneben wurde dem Ritter Maximilian von Speck eine Pension von jährlich 6.000 Rubel gewährt.
Zuerst führte ihn die Reise über Moskau, Rjasan, Tambow und Pensa vorerst nach Saratow. Hier erlitt er einen Unfall, über den er schrieb: „ Bei Saratow an der Wolga wurden wir umgeworfen; der Postillon verlor das Leben, und ich erhielt eine schwere Kopfwunde, so wie mehrere Verwundungen an den übrigen Theilen des Körpers“. Unverzüglich wurde ihm der Leibarzt des Zaren und Chef des russischen Militärsanitätswesens, der schottische Arzt Dr. James Wylie nach Taganrog zu Hilfe geschickt. Diesem gelang es, von Specks Gesundheit wieder so herzustellen, dass er seine Reise fortsetzen konnte. Entlang der Wolga ging es nach Zaryzin (heute Wolgograd), von dort zum Don und über Nowotscherkassk nach Odessa. Von hier fuhr er an Bord eines Kanonenbootes der russischen Kaiserlichen Flotte am 5. August 1825 zur Halbinsel Krim. Nachdem er dort mehrere Orte besucht hatte, u.a. Simferopol, Bachtschi Sarai und Sewastopol, reiste er über das Schwarze Meer zurück nach Odessa, wo er am 28. August 1825 wieder ankam. Von dort ging es über Warschau zurück in die Heimat, die Reise war beendet.
Billig war diese Reise nicht, denn einen großen Teil der Spesen hierfür beglich von Speck aus eigener Tasche. Deshalb bot ihm die russische Regierung 5.462 ha Land am Asowschen Meer an. Bedingung war, es sollten dort, so schrieb von Speck, “Wollwäschen und Sortie-rungsanstalten angelegt; eine bedeutende Elektoralherde als Muster für die 3 Gouvernements Cherson, Jekaterinoslaw (heute Dnepropetrowsk – d. Verf.) und die Krimm aufgestellt werden, und die ersten deutschen Landwirte, Schafzüchter und Wollkenner, welche sich dort niederließen unter meiner Leitung das Ganze führen.“ Weil ihm dieses Angebot aber in vielerlei Hinsicht als zu risikoreich erschien lehnte er es schließlich ab.
Auch wenn die Reise über 2.000 km schwer und entbehrungsreich war, schließlich musste der Weg mit der Kutsche oder zu Pferde zurückgelegt werden, so bewertet sie Maximilian von Speck als Erfolg und schrieb: „Welcher Vortheil daraus für mein Vaterland, und selbst Preußen und Oestreich, erwachsen musste, beweißt die überaus große Menge Zuchtschafe, welche seitdem zu hohen Preisen nach Russland abgeführt worden sind, und noch abgeführt werden, welches dem Landwirthe bei den niedrigen Woll- und Getreidepreisen sehr zu Statten kommt.“
Welchen Eindruck die Reise auf Maximilian von Speck hinterließ, das belegt wohl die Tatsache, dass er in seinem Buch „Spaziergang nach Lützschena und Umgebung“, das 1830 erschien, dazu schrieb: Das Russische Haus, „welches nach einer Zeichnung, die der Besitzer aus Petersburg mitbrachte, im Jahre 1826 erbauet wurde, und eine sehr freund-liche Aussicht auf die nach Leipzig gehende Strasse gewährt. Sein nettes Inneres ist zum Teil mit Lithographien – Scenen aus Russ-land darstellend, - theils mit verschiedenen anderen Kunstgegenständen decorirt, und die buntglasigen Fenster geben den eindringenden Sonnenstrahlen einen zauberischen Reiz. Der freie Platz auf der Ost- und Westseite dieses allerliebsten Belvedere ist bedeckt mit wilden Wein- und Epheuranken, die, aus verkürzten und geschnittenen Baumstämmen künstlich zusammengesetzte Rückwand überzogen; wer möchte nicht gern hier einige Augenblicke verweilen, und sich dem Zug seiner Gefühle überlassen!“
Das erklärt auch, woher die Straße „Am Russischen Garten“ ihren Namen bekam, denn sie befand sich mit dem Russischen Haus ganz in der Nähe. Schaue ich mir die Schnitzereien an den Traufen des jetzt noch bestehenden Gebäudes an, die eindeutig russischen Stils sind, dann gelange ich zu der Überzeugung, hier handelt es sich um das Russische Haus, auch wenn es zuletzt als Kopfbau einer später angelegten und jetzt abgerissenen Kegelbahn diente. Seine Tage scheinen gezählt, wenn das zugehörige Grundstück verkauft werden soll. Es zu seiner Rettung unter Denkmalschutz zu stellen ist wegen der Kürze der Zeit wohl kaum vorstellbar. Vielleicht gelingt es aber, die Kräfte aufzubringen und es wegen seines historischen Wertes an eine andere Stelle, vorzugsweise in den Schlosspark umzusetzen.
1825 ließ Maximilian von Speck mit der Anlage des Schlossparks nach englischem Vorbild beginnen. Zu dessen Ausstattung wurden mehrere Gebäude und Tempel gebaut, Denkmale aufgestellt. Um sie im Bild festzuhalten beauftragte er den österreichischen Maler Friedrich Loos (geb. 29.10.1797 in Graz, gestorben 9.5.1890 in Kiel) von diesen Lithographien anzufertigen. Nach Studien von 1816 bis 1821 an der Akademie der bildenden Künste in Wien war er nämlich auch in Leipzig. Ein Teil dieser Lithographien fand Eingang in das bereits erwähnte Buch „Spaziergang nach Lützschena und Umgebung“, darunter das Bild des als „Monument“ bezeichneten Denkmals für den Zaren Alexander I., der am 1.12.1825 unter mysteriösen Umständen in Taganrog verstarb. In seinem Buch schrieb von Speck darüber:
„Von hier aus (dem Ex Voto – d. Verf.) beugt rechts ein Seitenweg ein zu dem, auf einer immer mit blühenden Rosen umpflanzten Anhöhe befindlichen
Monumente Kaiser Alexanders I.
in Gusseisen, aus der königlichen Eisengiesserei zu Berlin. Die wohlgetroffene Büste des Kaisers steht auf einem Postamente, dessen 1ste Platte die Inschrift führt:
„Der Zuruf selber des Engels
belohnt nicht ganz einen König,
der Gott sein Herz geweiht,-
KLOPSTOCK.
die 2te im Sinne des Dichters also fortfährt:
„Und gute Taten in vollen Schaa-
ren um sich verbreitete, bis sein
Geist zu der Unsterblichkeit sich schwang.“
M. v. Speck
und in dessen 3ter Platte die Worte eingegraben sind:
„Wilia 1807.“
Ce jour est le plus beau de ma vie!
ALEXANDRE
Wenn die ersten beiden Inschriften an die grossen Eigenschaften und
Verdienste des Fürsten erinnern sollen, so ruft dagegen die letzte den hohen
Wert des Menschen Alexander uns wieder ins Gedächtnis, indem sie auf die
folgende Begebenheit sich bezieht, welche der edlen Menschenfreundlichkeit
des Kaisers vollgültiges Zeugnis giebt.
Auf einer Reise nach
Lithauen war Kaiser Alexander seinen Begleitern vorausgeeilt, und sahe am
Ufer der Wilia Leute mit einem Ertrunkenen beschäftiget. Sogleich stieg
er vom Pferde und rieb dem verun-glückten Landmanne Handgelenke und Schläfe.
So fand ihn sein Gefolge. – Wylie, sein Leibarzt (derselbe, welche dem Besitzer
des Parks im J. 1825 das Leben rettete, als dieser beim Durchgehen der Pferde
mit dem Wagen schwer verwundet, ins kaiserliche Hoflager nach Taganrog kam),
bemühte sich eine Stunde lang, des Ertrunkenen Lebens-geister zurückzurufen.
Als nun schon alle die Hoffnung seiner Rettung aufgegeben hatten, drang
der Monarch auf einen neuen Versuch mit Oeffnung der Ader. Und siehe! Endlich
floss Blut. „Bon dieu“ – rief bei diesem Anblick der Kaiser voll freudiger
Rührung – „bon dieu! Ce jour est le plus beau de ma vie!“ –Die Gesellschaft
für Humanität in London hörte von dieser Edelthat, und schickte dem Selbstherrscher
der Reussen eine goldene Medaille zum Andenken an das menschenfreundliche
Werk. „Ich kann - antwortete Alexan-der – mich der Genugthuung nicht entziehen,
einer Gesellchaft anzugehören, deren Zwecke der Sache der Menschheit gewidmet,
und den theuersten Bewegungen meiner Brust so ver-wandt sind.“
Und dies war nicht die einzige Grossthat Alexanders; hätte man nicht denken sollen, Aller Herzen würden ihm in dankbarer Liebe und Ergebenheit entgegengeschlagen haben? Aber das ist nun einmal das gesellschaftliche Loos, dem auch das Beste auf Erden nicht entgeht: der Tadel erreicht es nicht minder, und angehaucht wird es von der Missgunst und dem Neide der Schlechteren. Kein Wunder also, dass auch Alexanders Neuerungen zum Heile seines Volkes ebenso ihre Feinde fanden, dass das neue Gesetzbuch voll Weisheit und Milde – gemissbilligt ward, dass die Aufhebung von Leibeigenschaft manche Grossen des Reichs erzürnte, kurz, dass man den besten, edelsten Willen missdeutete und verkannte!“
Wo genau das Monument im Park gestanden hat, dass kann ich leider nicht sagen. Kürzlich habe ich jedoch erfahren, dass es die Absicht gibt, vielleicht auch mit Unterstützung durch das Generalkonsulat der Russischen Föderation in Leipzig, eine Nachbildung des Denkmals her-zustellen und es im Schlosspark aufzustellen. Das käme den Bemühungen des Fördervereins Auwaldstation und Schlosspark e.V. entgegen, wo man daran arbeitet, verloren gegangene oder beschädigte Plastiken aus dem Schlosspark eventuell auszubessern und wieder dorthin zu bringen. In dem Zusammenhang könnte sicher auch ein geeigneter Platz für das Denkmal des Zaren gefunden werden.
Auch später ist die Verbindung nach Russland nicht abgerissen. An der im Jahre 1851 durch Maximilian Speck von Sternburg gegründeten Höheren Landwirtschaftsschule waren 1857, also ein Jahr nach seinem Tode, 25 Studierende eingetragen, darunter 8 Preußen, 5 Öster-reicher, 2 Russen, 1 Sachse und die übrigen aus Anhalt, Oldenburg usw.
Horst Pawlitzky