Rüben verziehen

Das ist ein Begriff, mit dem Kinder und Jugendliche unserer Tage sicher wenig anzufangen wissen. Für uns aber, die anfangs der 50-er Jahre im Alter von 10 bis 14 Jahren waren, hatte er eine hohe Bedeutung. Ging es doch hier um eine landwirtschaftliche Arbeit, welche notwendig war, um die Versorgung der Bevölkerung mit Zucker zu verbessern, denn auch er war in den Nachkriegsjahren rationiert. Gerade für Saisonarbeiten standen außerdem nicht genügend Arbeitskräfte zur Verfügung, so dass auch Schüler dafür eingesetzt wurden. Mit dem Rüben verziehen sollte der Ertrag der Zuckerrüben auf ein hohes Maß gebracht werden. Dazu muss man nämlich wissen, dass bei der Aussaat von Zuckerrüben ein Saatgut verwendet wurde, bei dem aus einem Samenkorn mehrere Pflanzen gleichzeitig keimten. Nun galt es also, nachdem Ende März oder im April die Saat ausgebracht war und die jungen Pflanzen im Mai oder Juni auf eine Höhe von ca. 10 cm heran gewachsen waren, in mühsamer Handarbeit die überschüssigen Pflänzchen zu entfernen und nur die stärksten stehen zu lassen. Dadurch sollten sie genügend Raum für ihr Wachstum finden.


Viele Kinder und Jugendliche gingen freiwillig zu dieser Arbeit, andere mit leichtem Druck, weil ihre Schulklasse aufgefordert wurde, an dem Einsatz vollzählig teilzunehmen. Sie trafen sich nach dem Ende des Schultages an einem festgelegten Ort, wo sie dann von den Bauern abgeholt wurden. Auf Wagen, die von Pferden oder einem Traktor gezogen wurden, ging es hinaus zu den Feldern. Hier wurde jedem Teilnehmer eine oder mehrere Reihen von Zuckerrüben zur Bearbeitung zugeteilt, je nach dem wie lang das Feld war. Auf allen Vieren krochen wir dann über das Feld. Man konnte schon den Mut verlieren, wenn aus dieser Perspektive zu sehen war, wie sich das Ende der Reihe mit dem Horizont vereinigte. Es half nichts, die kleinen Pflanzenbüschel wurden begutachtet und entschieden, welche Pflanze am besten gediehen war und stehen bleiben durfte. Ohne diese zu verletzen wurden die übrigen heraus gezogen und zwischen den Reihen abgelegt. Durch letzteres sollte erreicht werden, dass der Boden bedeckt war und das Wachsen von Unkräutern erschwert wurde. Hatte man seine Reihen geschafft, dann erfolgte die Meldung an den Bauern, der sich von der Qualität der geleisteten Arbeit überzeugte. Gab es nichts zu beanstanden, dann war auch die Entlohnung gesichert. Sie wurde am Ende des Einsatzes gezahlt und betrug in Abhängigkeit von ihrer Länge 25 bis 50 Pfennige je Reihe, ein willkommenes Taschengeld. Meist dunkelte es schon als die Rückfahrt angetreten wurde. Zuvor gab es meist noch einen kleinen Imbiss, häufig zwei Scheiben Brot mit Griebenfett oder Leberwurst dazwischen, dazu Tee oder Malzkaffee („Muckefuck“ genannt). Auf der Fahrt wurde also gegessen und daheim angelangt konnte mancher auf das Abendbrot verzichten.

Heute ist diese Arbeit nicht mehr nötig, denn anstelle des polygermen wird monogermes Saatgut verwendet, bei dem aus jedem Samenkorn nur eine Pflanze entsteht. Es wird in einem aufwendigen Verfahren hergestellt, bei dem das Samenkorn aufgespalten und pelletiert wird. Dabei erhält es eine Hülle aus Nährstoffen und Dünger. Weil sie von gleicher Größe sind lassen sie sich leichter mit modernen Maschinen ausbringen. So wird erreicht, dass die Rüben in regelmäßigen Abständen keimen, maschinell leicht zu pflegen und zu ernten sind und beste Bedingungen für ihr Wachstum finden.

Text: Horst Pawlitzky
Fotos: Bundesministerium für Bildung und Forschung
Heimatmuseum Seelze