Schriftsteller Gunter Preuß- Interview für „Auen-Kurier“

Der in Leipzig-Lützschena wohnende Schriftsteller Gunter Preuß ist nicht nur den Lesern des Auen-Kuriers bekannt. Zahlreiche Bücher von ihm kennen inzwischen viele. Zuletzt erschien „Wer lesen kann, der hat gut lachen“ und „Unsere Lieben Kinder“ Der Auen-Kurier machte in Heft 12/2015 darauf aufmerksam. Zum 75.Geburtstag des Schriftstellers im September 2015 gratulierte der Auen-Kurier im Heft 10/2015 und sprach dabei den Wunsch aus, ein Interview mit dem schreibenden Künstler zu führen. Durch die seit einem Jahr in jedem Heft des Auen-Kurier erscheinenden Sinnsprüche von Gunter Preuß finden viele Leser Anregungen. Woher kommen dem Schriftsteller diese Gedanken?
1. Sie haben sich oft zum menschlichen Werden geäußert. Sie sagen: Wir müssen im Laufe unseres Lebens noch oft geboren werden, um Geist und Seele zu erwecken und zu formen. Wie war Ihr Werdegang?
In meiner Nachkriegskindheit und Jugend hatte ich vollauf zu tun, mich der Umarmung meiner dominanten Mutter zu entziehen. Das hat selbst nach ihrem Tod noch angedauert. Ich habe das Thema in meinem Entwicklungsroman „Und wenn ich sterben sollte“ gestaltet. (Inzwischen ist der Roman auch von der Psychologie zum Thema „Schwarze Pädagogik“ empfohlen.) Mich hat es innerhalb der in mancherlei Hinsicht engen DDR-Grenzen viel herumgetrieben. Ich bin gelernter Fernmeldetechniker, war Leistungssportler, Artistenschüler, Literaturstudent, Hochschullehrer – und arbeite seit vierzig Jahren als freischaffender Schriftsteller. Meine Lehr- und Wanderjahre sind bis heute nicht beendet. Das Gefühl angekommen zu sein ist bei mir nicht dauerhaft. Die unzähligen großen und kleinen Dienststellen unseres Körpers müssen im Strudel der Gefühle beständig von mehr oder weniger Geist und durch vielfältige Bewegung beschäftigt werden, um die gesamte Administration Mensch am Leben zu erhalten.

2. Was bewog Sie, vom gängigen Weg abzukommen und sich der Kunst zu verschreiben?
Als Artistenschüler im geteilten Berlin (Ende der 50er Jahre bis zum Mauerbau) geriet ich in eine schwere seelische und körperliche Krise. Ich musste mich neu orientieren, ohne recht zu wissen, was ich nun weiter mit mir und meinem Leben anfangen sollte. Zurück in Leipzig und wieder im erlernten Beruf tätig, entstanden die ersten Gedichte und Kurzgeschichten, die bei Fachleuten Anerkennung und in der Öffentlichkeit Gefallen fanden. Mit einem Preis versehen kam ich ans Leipziger Literaturinstitut, wo ich das Studium nach vier Jahren abschloss. Zwei Bücher waren inzwischen entstanden, und ich wagte das Abenteuer eines Freischaffenden, das für jeden, der es mit der Kunst ernst meint, alles oder nichts heißt.

3. Die Bandbreite Ihres Schaffens ist vielfältig. Sie schreiben für Erwachsene und Kinder, es sind Romane, Gedichte, Hörspiele, Theaterstücke, Essays und sechs Aphorismenbücher entstanden. Was treibt Sie zum Schreiben und woher nehmen Sie die Ideen?
Jeder von uns versucht sein Dasein mit seiner Lebenserfahrung, Bildung und Fantasie zu gestalten. Die einen geben sich zufrieden mit den Umständen, in die sie hineingeboren sind. Die anderen tasten sich in ihrer Sinnsuche immer weiter ins Lebenslabyrinth hinein. Ich sehe mich als Suchenden, dem auf seinem ungewissen Weg mit hier und da gewonnener Erkenntnis beileibe nicht nur Glück beschert ist. Mein Spielraum liegt außerhalb des Kleingartens, in dem das Glas halb voll und die Welt in Ordnung erscheint. Das Feld, das ich beackere, ist die Poesie, die den Alltag und das reale Geschehen nicht ausschließt, sondern darauf fußt. Dabei bin ich von Geburt an reich beschenkt mit einem nicht aufzubrauchenden Schatz an Fantasie. Aber auch mit ihr ist es wie mit allem, was man im Überfluss besitzt − die Imagination hat neben viel Licht und Weite auch dunkle Seiten und Abgründe. Also: Meine Ideen muss ich nicht suchen, sie drängen sich mir über Menschen, Dinge und Weltgeschehen geradezu auf. Vom Einfall bis zur Kunst ist es dann noch ein weiter Schritt, der nicht immer im gleichen Maße gut und manchmal gar nicht gelingt.

4. Sie sind gebürtiger Leipziger und Ihrer Umgebung bis auf einige Seitensprünge treu geblieben. Seit etwa zehn Jahren wohnen Sie in Lützschena. Fühlen Sie sich wohl hier? Ja, und was ist für Sie Heimat?
Leipzig wird mir, ich schrieb es an anderer Stelle schon, bei jedem Besuch fremder. Es ist nicht mehr meine Stadt, wie es nicht mehr meine Zeit ist. Auch bin ich lieber abseits vom Getümmel und ein Wald beglückt mich mehr als manche Stadt. Geradezu allergisch bin ich gegen Menschenströme, aus denen schnell ein lärmender Haufen wird. Was das insgesamt reizvolle Lützschena betrifft – vom die Lebensqualität erheblich beeinträchtigenden Flughafen und ein paar anderen Dingen abgesehen –, haben wir es hier unweit der Stadt eher ländlich und grün. Mit dem Wort Heimat tue ich mich schwer. Das Vaterland ist mir zu pathetisch und blutbefleckt. In einem Unterschlupf will mir auf Dauer nicht warm werden. Und wenn ich mein Zuhause nicht in mir finde, fühle ich mich überall fremd. Mit Heimat verbinden wir wohl am ehesten den Ort, der uns geprägt hat. Meinen Ursprung habe ich zwar in Leipzig, geriet aber bald mit Mutter und Bruder in die Kriegswirren. Das Unstete einer langen Flucht macht es mir grundsätzlich schwer, einen Ruhepunkt in und außer mir zu finden.

5. Sie wohnen recht idyllisch am Ufer der Weißen Elster mit Blick auf den Luppedamm und den Auwald. Lässt Preuß nun im Alter den lieben Gott einen guten Mann sein? Oder wollen Sie noch immer die Welt verändern? Kurz: Wie gestalten Sie Ihren Alltag?
O ja, dieser Blick aus dem Schreibstübchen ist zu jeder Jahreszeit beeindruckend. Aber selbst im Garten Eden ist auch der Teufel zu Hause. Das Paradies zu erhalten macht Arbeit, sonst wird es alsbald zur Wildnis. So bin ich hin und hergerissen zwischen den Dingen, die in Haus und Hof getan werden müssen, und denen, die ich im Kopf und am Schreibtisch zuwege bringen will. Die Welt, so viel hab ich begriffen, kann ich weder hier noch da verändern. Was menschliche Macht und Ohnmacht anbelangt, geht sie weiter ihren Gang mit Ausbeutung, Unterdrückung, Gewalt und Gegengewalt. Nahe am Abgrund ist sie, wie sie ist, welchen Namen wir unserm Tun und Lassen auch geben, so viel wir es schönreden und propagandistisch vermarkten. Dagegen ist bisher in keinem Garten ein Kraut gewachsen. Ansonsten ist mein Tagesablauf recht streng geregelt zwischen Arbeit und Erholung. Dabei fehlt es mir stets an Zeit, und das nimmt zu, umso älter ich werde. Noch immer will ich mehr, als ich bekommen und zustande bringen kann. Faulenzen, was von Lebenskünstlern als Lust beschrieben wird, oder gar Langeweile habe ich nie kennengelernt. Obwohl ich die Ruhe, die seltenen und kostbaren Augenblicke der Stille liebe, bin ich selbst in meinen Träumen noch in Bewegung, mal als Jäger und mal als Gejagter.

6. Woran arbeiten Sie derzeit? Und liegt da einiges in der Schublade?
Ich werde nicht mehr Kraft und Zeit haben, all dem, was sich an Ideen angesammelt hat und neu hinzukommt, Form und Inhalt zu geben. Meine Lust am Fabulieren hat eher noch zugenommen. Dabei interessiert es mich erst einmal wenig, wer was veröffentlicht. Zum gegenwärtigen Buchwesen nur soviel: Auf dem Buchmarkt preist man seine Ware ebenso marktschreierisch an wie auf dem Fischmarkt. Das gleiche Gebrüll, hier mündlich, dort schriftlich. An dem einen Ort muss man den Gestank, an dem andern die Humorlosigkeit des Preisliedes ertragen. Nun, auf dem Fischmarkt bekommt man für gewöhnlich gute Ware, auf dem Buchmarkt viel toten Fisch. Dieser Spruch ist übrigens aus einem neuen Manuskript, derer es einige in und außerhalb der Schublade gibt. Aber selbst das Huhn gackert erst, wenn es das Ei gelegt hat. Nur der Gockel kräht immer, davor und danach.

7. Neben Ihrer künstlerischen Arbeit mischten Sie sich damals und mischen Sie sich heute in gesellschaftliche Belange ein. Das hat sie früher Repressionen ausgesetzt und heute stoßen Sie auf Ignoranz und Gleichgültigkeit. Wie ist Ihrer Meinung nach die Welt noch zu retten?
Ich habe gerade ein Manuskript mit einem größeren Essay, Sentenzen und Dialogen beendet, das mit dem „Versuch über die Zehn Gebote der Vernunft“ schließt. Zur Weltrettung soll hier ein Ausschnitt aus der Fantasterei eines Pessimisten Auskunft geben. Der Text schließt:
Was sagen wir nun zu diesen Geboten?
Wir wollen so sagen: Wir sind, einer wie der andere, eifrige und in uns selbst verzwickte Wesen. Es soll vor allem so sein, dass wir vornehmlich nicht die Welt und das Leben ändern, sondern an uns selbst arbeiten. Wir müssen begreifen lernen, dass wir nicht Mensch sein können, ohne es zu werden. Indem jeder sich selbst verändert, verändern sich alle. Indem sich alle verändern, verändert sich die Welt. Es soll heißen: Was wir ihr Gutes tun, tut sie uns Gutes.
Was ist das?
Kein Gott und kein Herr sollen uns mehr drohen. Wir wollen nicht ducken vor ihrem Zorn und uns vor ihnen fürchten müssen. Wir sollen uns nicht als Herrn aufspielen und gottgleich wähnen. Wir sollen nicht glauben, was wir nicht wissen, sondern das, was wir wissen, mit unserm Glauben festigen. Wir sind Teil dieses Lebens, wie jedes andere Wesen Teil davon ist. Wir wollen in allem Möglichen frei wählen und der Vernunft dienen, dass sie über allen Geboten steht. Sie soll sich nicht von unsern Interessen diktieren lassen, sondern unsere Interessen bestimmen. Wir wollen unsern Mut und unsre Kraft dransetzen, das zu tun, was unsre Vernunft uns gebietet. Sie allein soll uns, in den Gesetzen, die wir uns geben, Grenzen setzen, so eng wie notwendig und so weit wie möglich. Unsere künftigen Konflikte sollen wir einzig im gemeinsamen Haus der Vernunft an ihrem runden Tisch austragen. Dabei sollen unser hauptsächliches Rüstzeug unser Geist, unsere Argumente und unsere Geduld sein. Wir sollen erst dann wieder von diesem Tisch aufstehen, wenn wir den nächsten Schritt kennen. So können wir werden und kommen dem nahe, was wir ungebunden nennen, wobei doch einer mit dem anderen verbunden bleibt.
(Doch woher, Mensch, willst du die Vernunft nehmen?)

Das Gespräch mit Herrn Gunter Preuß führte Frau Dr. A. Neumann vom Auen-Kurier.