Rübensirup kochen

Als mein Vater im Frühjahr 1948 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft entlassen wurde hatte er es schwer Arbeit zu finden, musste sich mit verschiedenen Tätigkeiten durchschlagen. Ähnlich wie heute Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durchgeführt werden, so stellte ihn die Stadtverwaltung in Schkeuditz für die Zeit vom 15. Juli bis zum 3. November 1949 als Flurhüter ein. Das waren Männer, die tagsüber und vor allem nachts unterwegs waren, ausgerüstet mit ihren Fahrrädern, Taschenlampen und Knüppeln, um die Ernte vor Diebstahl zu schützen. Eine bestimmt nötige Maßnahme, waren doch in jenen Jahren Nahrungsmittel legal nur gegen Lebensmittelkarten in bescheidenem Maße erhältlich. Den Behörden, welche sich um eine gerechte Verteilung der äußerst knappen Ressourcen bemühten, kann man den Griff zu solchen Methoden sicher nicht verübeln. Gerade im Herbst reiften große Mengen der Früchte, welche in der immer noch hungernden Bevölkerung heiß begehrt waren, da war keine Kartoffel auf dem Feld sicher. Viele versuchten so ihren Tisch zu decken, während andere daran gingen, mit selbstgebauten Apparaten aus Kartoffeln Schnaps zu brennen, der dann auf dem Schwarzmarkt z.B. in Zigaretten oder Damenstrümpfe verwandelt wurde. Futterrüben wurden gebraucht, um die ungezählten Kaninchen, welche als zusätzliche Fleischlieferanten in fast allen Haushalten gehalten wurden, über den Winter zu bringen.

Zuckerrüben waren ebenso ein Objekt der Begierde, waren sie doch nötig zur Herstellung von Rübensirup. Gewöhnlich schlossen sich mehrere Leute zusammen, um in Arbeitsteilung die schwierige Aufgabe zu meistern. Die mutigsten Männer und Frauen hatten zu organisieren, dass genügend Rohstoffe vorrätig waren. Nachts gingen sie los um die Rüben auf den Feldern zu stehlen. Nur Hasenfüße hatten es nötig, den Bauern den ererbten Orientteppich oder einen jahrelang vor den Motten geretteten Pelzmantel für einen oder zwei Handwagen voll Rüben anzubieten. Weiter mussten Brennstoffe herangeschafft werden. Die auf Karten erhältlichen Heizmaterialien, meist Rohkohle, wenige Briketts und noch weniger Holz, reichten ja kaum aus, die Wohnungen zu heizen und den Küchenofen anzufeuern, geschweige denn für das energieintensive Sirupkochen. Zusätzliche Quellen mussten also erschlossen werden. Kohlezüge wurden geplündert und die Wälder ausgeräumt.

Im ersten Arbeitsschritt wurden die Rüben von Blättern befreit, gewaschen und in Stücke geschnitten, damit sie im rohen Zustand z.B. mit einer solchen Schnitzelmaschine zerkleinert werden konnten. Anschließend wurden die Schnitzel in großen Töpfen gekocht. Damit wurde erreicht, dass die Zellen der Rübe aufgeschlossen wurden und der Saft sich leichter extrahieren ließ. Gute Sorten von Zuckerrüben können bis zu 20 % reinen Zuckers enthalten.

Den Rohsaft gewann man durch Auspressen der gekochten Schnitzel. Dazu nahm man Pressen, die als Obstpressen aus der Vorkriegszeit noch vorhanden waren. Gab es keine, dann wurden sie von einfallsreichen Schlossern in ihren Betrieben durch „Feierabendarbeit“ angefertigt. Mitunter wurden sie in Werkstätten an Stelle von Kriegsgerät hergestellt und auf den Markt gebracht, wo sie die wenigsten Leute aber kaufen konnten. Mehrere Stunden dauerte das Pressen bis man die zur Weiterverarbeitung nötige Menge gewonnen hatte.

Danach begann der schwierigste Teil des Prozesses. In dem Waschhaus wurde der Kessel angeheizt und 100 bis 120 Liter des Rohsaftes hineingeschüttet. Es wurden immer nur die kundigsten Personen an den Ofen gelassen, denn von ihrem Geschick hing es entscheidend ab, ob die Charge gelang. Unter beständigem Rühren wurde der Saft so lange bei mäßigem Feuer erhitzt, bis genügend Wasser verdampft war und er seine dunkle goldbraune Farbe und die nötige Konsistenz hatte. Geriet die Temperatur zu hoch, dann fing die Masse an zu sieden, so dass die platzenden Blasen alle Umstehenden und die Wände mit heißen und klebrigen Spritzern überzogen. Auch konnte es passieren, dass der Sirup wegen seiner schlechten Wärmeleitfähigkeit und ungenügenden Rührens an den Kesselwänden verkohlte. Wie ich hörte, sollen absolute Nichtskönner auf diesem Gebiet dann noch Briketts nachgelegt haben, so dass am Ende der Kessel durchbrannte und weggeworfen werden musste – in der damaligen Zeit ein unersetzbarer Verlust! Entweder wurde der Sirup bereits in diesem Zustand gemäß der erbrachten Anteile möglichst gerecht an die Beteiligten verteilt oder in der nächsten Verarbeitungsstufe mit Möhrenmus eingedickt. Dieses wurde zubereitet, indem gekochte Möhren durch den Fleischwolf gedreht und zu einem Brei zerkleinert wurden. Stundenlang und mit wachsender Begeisterung habe ich die Kurbel an dem Fleischwolf gedreht. Wurde der Möhrenbrei dem Sirup zugegeben, dann ergab das ein Produkt mit wesentlich verbesserten Gebrauchswerten. Es schmeckte zwar etwas fade, aber er lief nicht mehr von der Bemme. Wer noch nie mit Sirup zu tun hatte, der kann auch nicht wissen, wie der dünne Sirup durch die noch dünneren Brotscheiben hindurch tropfte, so dass man kaum essen konnte, weil man ständig damit zu tun hatte, die Hände sauber zu lecken, damit das Zeug nicht in die Ärmel lief. Um dem entgegenzuwirken, wurde der Sirup also verdickt. Man konnte ihn aber nicht nur als süßen Brotaufstrich genießen, sondern bei entsprechendem Zuckergehalt - der braune Rohzucker kristallisierte dann aus und konnte vom Boden der Gefäße gekratzt werden - auch zum Backen verwenden.

Wie zu sehen ist, konnte diese schwierige Art der Nahrungsbereitung nur das Werk entschlossener und genau so fleißiger wie pfiffiger Nachkriegsmenschen sein. Viele Hände wurden gebraucht und mussten sich von abends bis tief in die Nacht rühren. Meist geschah das noch bei Kerzenschein, denn wegen der allgemeine Kohlenknappheit wurde fast jeden Abend der Strom für die Bevölkerung für mehrere Stunden so pünktlich abgeschaltet, dass man die Uhr danach stellen konnte.

Heute gibt es noch einzelne Firmen, welche Sirup industriell herstellen, weshalb er in den Regalen von Supermärkten zu finden ist. Wer also auf der Suche nach einem nostalgischen Erlebnis ist und spüren möchte, wie Sirup schmeckt und tropft, der sollte sich ruhig mal einen Becher davon kaufen.

Text: Horst Pawlitzky