Lützschena-Stahmeln und die Eisenbahn
Folge 5

Das Ende des Nazireichs 1945 brachte auch katastrophale Zustände bei der Deutsche Reichsbahn in Mitteldeutschland. Die Gleisanlagen waren wegen unterlassener Instandsetzung marode, auf vielen Strecken zur Eingleisigkeit zurückgebaut, die Bahnhöfe waren in manchen Städten zerstört oder beschädigt, Ausrüstungen und Lokomotiven für den elektrischen Zugbetrieb wurden gemäß Befehl 95 der sowjetischen Militäradministration (SMAD) in die Sowjetunion gebracht. Das rollende Material war stark reduziert und genügte den Bedürfnissen der Reisenden kaum. So kam es, dass die Züge in den ersten Jahren nach dem Krieg unregelmäßig fuhren und hoffnungslos überfüllt waren, weshalb die Leute auf Puffern und Trittbrettern, manchmal sogar auf den Dächern mitfuhren, oft zum "Hamstern" in die Umgebung der Großstädte. Verschärft wurde die Lage noch dadurch, dass einige Abteile für die Angehörigen der Sowjetarmee reserviert waren. Die Schilder an Fenstern, Türen und auf Toiletten waren nicht mehr in Deutsch und
italienisch (wegen der Beziehungen Deutschlands zum Italien Mussolinis), sondern nun auch in Russisch. Allerdings gab es auch etwa, was man jetzt gern wieder hätte, nämlich Abteile für Mütter und Kindern. Das war für diese Reisenden als Erleichterung gedacht und nicht als Schutz vor sexuellen Übergriffen. Ich kann mich gut erinnern, dass ich 1949 bei einer Fahrt mit meinem Vater von Schkeuditz zu dem Onkel in Halle die ganze Strecke in der stinkenden Toilette zurücklegte weil nicht einmal ein vernünftiger Stehplatz zu bekommen war.

Der Beförderungsbedarf auf der Verbindung Leipzig-Halle war so groß, dass man nicht mehr auf gewöhnliche Personenzüge zurückgriff, sondern die Deutsche Reichsbahn führte am 29.09.1957 auf dieser Relation den Wendezugbetrieb ein. Bei dieser Betriebsform für Dampflokbespannte Reisezüge behalten die Lok, hier eine Tenderlok der Baureihe 65, ihre Position ohne Umsetzen im Zugverband ein. Drückt sie also den Zug mit dem Steuerwagen an der Spitze nach Leipzig, so zieht sie ihn bei der Rückfahrt nach Halle. Diese Loks waren dazu geeignet, denn sie konnten in beiden Richtungen mit 90 km/h fahren und führten 9 t Kohle und 16 m³ Wasser mit – genug für eine Dienstschicht. Nachdem die Elektrifizierung auch der Strecke Leipzig-Halle am 20.12.1958 abgeschlossen wurde bot sich hier die Möglichkeit, die Dampfloks durch die leistungsfähigeren und rentableren E-Loks abzulösen, so dass der Wendezugbetrieb eingestellt wurde. An seine Stelle traten Doppelstockzüge, die mit einer Elektrolok bespannt zwischen den beiden Großstädten pendelten.

Der Haltepunkt Lützschena verlor wegen seiner entfernten Lage und den ungünstigen Tarifver-hältnissen (die Straßenbahnlinie 29, später 11 führten durch den Ortskern von Lützschena) mehr und mehr an Bedeutung. Außerdem wurden Lützschena und auch Stahmeln von der Straßenbahn in deutlich dichterem Takt bedient. Bis zur Einführung des MDV-Tarifes kostete eine Eisenbahnfahrt nach Leipzig deutlich mehr als der Fahrschein der Straßenbahn. 1996 wurde deshalb der Haltepunkt geschlossen, denn zuletzt hielten dort nur wenige Züge im Berufsverkehr. Nach 1990 wurde die Strecke zwischen Magdeburg und Halle weitgehend für eine Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h ertüchtigt. Bis Dezember 2004 folgte S-Bahnstrecke Halle-Leipzig, so dass zum Fahrplanwechsel im Dezember 2004 die S-Bahn der Linie S10 eingeführt werden konnte. Sie verkehrt seitdem nicht mehr über Wiederitzsch, sondern über Gohlis direkt nach Leipzig zum Hauptbahnhof.
Mit der Fertigstellung des City-Tunnels in Leipzig am 14. Dezember 2013 begann am nächsten Tag der fahrplanmäßige Betrieb im S-Bahn-Netz des MDV (Mitteldeutscher Verkehrsverbund). Nun fuhren auch in Lützschena Züge der Linie S 3 von Halle-Trotha nach Geithain im 30-Mi-nutentakt hindurch. In 12 Minuten fährt man nun von Lützschena zum Hauptbahnhof in Leipzig.

Für die Fahrt dorthin bezahlt man nun den gleichen Preis wie mit der Straßenbahn. Angenehm ist eine solche Fahrt auch deshalb, weil die S-Bahn-Züge Talent 2, hergestellt im Bombardier-Werk in Hennigsdorf, voll klimatisiert sind, ein gutes Fahrgast-Informationssystem haben und über bequeme Einstiege verfügen.

Text, Repro und Foto: Horst Pawlitzky